Wurzeln von Daito-ryu
Die Geschichte von Daito-ryu vor dem 19. Jahrhundert, wie wir sie heute kennen, basiert auf der schriftlichen und mündlichen Tradition, die von den letzten zwei Meistern dieser Schule, Takeda Sokaku und seinem Sohn und Nachfolger Takeda Tokimune, überliefert wurde. Laut dieser Tradition kann der Name `Daito-ryu` bis zu 900 Jahren zuvor datiert werden, zu Shinra Saburo Minamoto no Yoshimitsu (1045-1127), einem Krieger, von dem man glaubt, dass er ein entfernter Gründer der Schule sei. Als Kind lebte Minamoto Yoshimitsu auf einem Ort namens Daito in Omi-Provinz (die moderne Shiga-Präfektur), und daher nannte ihn man auch Daito Saburo. Daraus ergibt sich der Name `Daito-ryu`.
Yoshimitsu studierte klassische chinesische Militärstrategien wie etwa die von Sun Tzu und Wu Tzu, wurde als ein Kriegskommandant bekannt, der Sumo und Aiki beherrschte, und war sowohl in literarischen als auch kämpferischen Künsten ausgezeichnet. Außerdem hielt er eine Überwachungsstelle in der Linken Sicherheitsabteilung des japanischen Kaiserhofes inne. Das von Yoshimitsu beherrschte `Aiki` war eine in der Minamoto-Familie übertragene Geheimkunst, die er zu vervollkommnen und entwickeln fortsetzte.
Aiki hat vermutlich seine Wurzeln in der uralten Kunst von Tegoi, die in einem uralten japanischen Mythos über zwei Götter, Takemikazuchi no Kami und Takeminakata no Kami, erwähnt ist. Diese in dem ältesten schriftlichen Dokument Japans, dem Kojiki (Aufzeichnungen über alte Angelegenheiten, ungefähr um 712 nach Kristi verfasst) niedergeschriebene Geschichte erzählt wie Takemikazuchi no Kami die Hände von Takeminakata no Kami nahm und, `als ob er ein Schilf berührt hätte, drückte er seine Hände und warf ihn.`
Tegoi stelle zugleich den Ursprung von Sumo dar (jetzt der japanische Nationalsport), der Erzählung in der Legende von Nomi no Sukune und Taima no Kehaya nach (in Nihon Shoki – Chroniken von Japan, 720 nach Kristi). Während der Heian-Ära (ungefähr 792-1192) wurde Tegoi in eine höfische Unterhaltung verwandelt, bekannt als `Sumai no sechie`, die sich später zu Sumo entwickelte und die anschließend durch Krieger der Kamakura-Ära (1192-1333) geübt wurde. Sumai no sechie war ein Sumo-Wettbewerb, während dessen Kämpfer aus allem Japan vor dem japanischen Kaiser gegeneinader traten. Im Unterschied zum modernen Sumo gab es damals jedoch keinen Ring und die angewandten Techniken waren mehr kampforientiert als die heutigen beim Match vorkommenden Bewegungen. Der Kampfcharakter dieser Kunst zu dem damaligen Zeitpunkt ist z.B. anhand eines kaiserlichen Ediktes (durch den Kaiser Nimmyo, 810-850, veröffentlicht) leicht zu beobachten: es besagt, `Sumai no sechie ist nicht nur Unterhaltung; es ist ein ideales Mittel, um wirkliche Kampffertigkeiten zu kultivieren.`
Im 868, während der Regierungszeit vom Kaiser Seiwa (850-880), wurde die ämtliche Jurisdiktion über Sumai no sechie vom Ministerium der Zeremonien auf das Ministerium der militärischen Angelegenheiten übertragen, was offiziell den Übergang von Sumo zum Bereich tatsächlicher Kampfkünste gekennzeichnete. Trainingsformen von Tegoi – entwickelt, um den Kaiser zu beschützen – wurden durch die Minamoto-Familie geerbt, die vom Prinzen Tsunemoto, einem Enkelkind vom Kaiser Seiwa, abstammte. Die Kunst wurde vom Prinzen Tsunemoto auf Minamoto Mitsunaka, Minamoto Yoriyoshi und schließlich auf Minamoto Yoshimitsu übertragen.
Minamoto Yoshimitsu erhielt den Orden Kai no Kami und den Rang `Herr der Kai-Provinz` für auschlaggebende Verdienste während des Späten Dreijährigen Krieges (1083-1087). Später in seinem Leben nahm er einen buddhistischen Namen Gyobu Nyudo an und pflegte seinen Körper und sein Geist mithilfe esoterischer Übungen im Onjo-Temple abzuhärten. Er habe vermutlich dabei beispiellose magische Macht und göttliche Ausstrahlung erlangen. Genau zu diesem Zeitpunkt verzichtete Daito-ryu auf seine Wurzeln in Tegoi und stieg wie eine abgesonderte, eigene Kunst empor.
Von der Takeda-Familie der Kai-Provinz zur Takeda-Familie der Aizu-Domäne:
Minamoto Yoshimitsu übertrug seine Kunst auf seinen zweiten Sohn Yoshikiyo, gemeinsam mit dem Banner und der Rüstung, die traditionsgemäß von Generation zu Generation innerhalb der Minamoto-Familie weitergegeben wurden. Yoshikiyos Enkelsohn, Nobuyoshi, habe im Dorf von Takeda in der Region Kitakoma in der Kai-Provinz gelebt und so übernahm den Familiennamen Takeda. Dies war der Anfang der Takeda-Familie der Kai-Provinz, der Abstammung, die bis zu Takeda Shingen (1521-1573) überdauerte – zu einem der vermutlich größten militärischen Generäle der japanischen mittelalterlichen Epoche. Die Kunst von Daito-ryu wurde weiter innerhalb der Takeda-Familie übertragen zusammen mit der geehrten Familienrüstung und dem Dynastiebanner.
Im Februar 1574, fast ein Jahr nach dem Tode von Takeda Shingen, kam sein Verwandter Takeda Kunitsugu in der Aizu-Domäne von der Mutsu-Provinz an (ein Teil der modernen Fukushima-Präfektur) und dabei trug er Shingens letzten Willen und das Vermächtnis. Hier trat er in den Dienst von Ashina Moriuji, dem Herrn der Aizu-Domäne, der einer der Verbündeten Shingens war. Wie ein Nachlasssteward bekam Kunitsugu 10,000 Quadratmeter Land in Nishi Aozu Muratakata. Hier lebte er auf einem Platz namens Oike und betrieb ein kleines Heer von fünfzehn Kavallerie-Männern und zehn Infanterie-Männern. Ebenfalls baute er den alten und verrotenen Seinei-Tempel um, den er als einen Teil des Aizu-Tennei-Tempels etablierte und dem er einen neuen Namen gab: Saiko-Tempel. Von dieser Zeit ab ließen sich Nachfolger des Kunitsugu in der Aizu-Domäne nieder. Die Takeda-Familie übernahm die Verantwortung als die Hauptpriester des Aizu-Ise-Heiligtums (für den schützenden Shinto-Schrein des Seinei-Tempels gehalten) und Überwacher der Geheimnisse von Daito-ryu (auch unter dem Titel `Kogusoku` bekannt).
Während der Edo-Periode (1603-1867) anerkannte der erste Tokugawa-Shogun, Ieyasu (1542-1616) offiziell die militärische Strategie Takeda-ryu (Koshu-ryu) von Takeda Shingens Dienstmann Obata Kagenori (1572-1663). Seit dieser Zeit waren die Errungenschaften und Erfolge der Takeda-Familie in der Politik, den militärischen Angelegenheiten, der Wirtschaft und auf anderen Gebieten stets ein integrierter Bestandteil der politischen Besinnung der Tokugawa-Regierung – und zwar mit erfolgreichen Ergebnissen.
Tokugawa Ieyasus Enkel, Komatsumaru, wurde ein adoptiertes Kind von Takeda Shingens vierten Tochter, Takeda Kenshoin, und widmete seine Zeit und Energie dem Training von den Takeda-Kampfkünsten. Später wurde er ein adoptiertes Kind von Hoshima Masamitsu und nahm den Namen Hoshina Masayuki an. Im 1644 wurde Masayuki (1611-1672) zum Herrn der Aizu-Domäne ernannt. Man hielt ihn allgemein für einen weisen Herrscher, der erfolgreich mit großer Sorgfalt und Kompetenz regierte.
Laut dem Willen des dritten Tokugawa-Shoguns, Iemitsu, im Jahre 1651 wurde Hoshina Masayuki zum Wächter und Betreuer des elfjährigen Shoguns Ietsuna, indem er den Rang des Großen Beraters erlang – den höchsten Titel in der Tokugawa-Regierung. Seit dieser Zeit und für die nächsten zwanzig Jahre überwachte er politische Angelegenheiten im Edo-Schloss. Während dieser Periode reformierte er das durch Takeda Kunitsugu zur Aizu-Domäne übertragene Daito-ryu, damit er den aufsteigenden Bedürfnissen nachgehen konnte, den Frieden innerhalb der Schlosskammern zu bewahren. Er führte nämlich ein unter dem Namen `Oshikiuchi` bekanntes System ein, ein Selbstverteidigungssystem, das für Seniorberater, Vasallen des Shoguns und gewisse Burgarbeiter geeignet war.
Darüber hinaus beherrschte Hoshina Masayuki die Schwertkampfschule `Ono-ha Itto-ryu` und studierte unter der Leitung von Ono Tadatsune, dem Lehrer des Shogun-Familie. Beide diesen Kampfkünste, Ono-ha Itto-ryu und Oshikiuchi, leitete er an die nachfolgenden Herren der Aizu-Domäne weiter. Ins besondere vertraute er die Lehren des Oshikiuchi denjenigen Seniorberatern der Aizu-Domäne an, die den Familiennamen `Saigo` trugen; einen Familiennamen, der seine Abstammung in der Saigo-Familie der Mikawa-Provinz (die moderne Aichi-Präfektur) fand.
Die Takeda-Familienblutlinie ging weiter von Takeda Kunitsugu zu Takeda Chikara, Takeda Nobutsugu und nach anderen vier Generationen wurde sie durch Takeda Soemon geerbt (? – 1853). Soemon studierte die Kunst von Yin-Yang-Wahrsagerei (Ommyodo) in Kioto unter der Leitung von der Tsuchimikado-Familie, die die Nachkommenschaft des berühmten Wahrsagers Abe no Seimei (921-1005) darstellte. Schließlich erhielt er ein Menkyo-Zertifikat (die Lizenz des Abschlusses) und bekam den Rang von Takumi no Kami. Nachdem er nach Oike in der Aizu-Domäne zurückkehrte, diente er als der Hauptpriester des Aizu-Ise-Heiligtums und wurde sowohl als Experte in der Shinto-Religion und Yin-Yang-Wahrsager als auch als Meister von Daito-ryu bekannt. Diese Künste unterrichtete er auf unterschiedlichen Plätzen und übermittelte soeben Geheimlehren an den Berater von der Aizu-Domäne, Saigo Tanomo.
Soemons erstgeborener Sohn Sokichi (1819-1906) vererbte ein Stück bebautes Land, das in seiner Familie von Generation zu Generation übergeben wurde. Er übte Sumo, Kenjutsu (Schwert), Bojutsu (langer Stab) und Daito-ryu. Nachdem er eine spezielle Domänefreigabe erhielt, begab sich Sokichi zusammen mit zwei anderen jungen Männern auf einen Weg des Selbsttrainierens um Japan herum, wobei er den Ruf eines tapferen Kriegers erwarb. Nach seiner Rückkehr bekam er den Titel von Ozeki, den zweitgrößten Rang in der Sumo-Hierarchie der Aizu-Domäne, und dazu noch den Sumo-Namen `Shiraitozeki` durch die Hände des Herrn von Aizu. Sokichi war daneben noch ein gebildeter Mensch, der eine ortige Tempelgrundschule (Terakoya) leitete und Kampfkünste in einem Dojo auf seinem Grundbesitz unterrichtete. Er wurde für seine mutige Teilnahme am Kampf von Hamagurimon (Kimmon) in Kioto im Juli vom 1864 und zugleich an zwei militärischen Strafexpeditionen bekannt, die durch den Tokugawa-Bakufu gegen die aufständische Choshu-Domäne im 1864 und 1866 geführt wurden. Sokichi beteiligte sich auch am Kampf von Toba-Fushimi im Januar 1868 und an den Shirakawa-Kämpfen im April-Juli 1868. Während der letzteren leitete er ein Sumo-Korps, das ein Bestandteil der Artilleriemächte darstellte.